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Chrysa Silbersang



Aus der Dunkelheit geboren, erwartete sie den neuen Tag.



Es dämmerte. Chrysa blinzelte, als ein Sonnenstrahl ihre Nase traf, die aus dem schwarzen Umhang herauslugte. Sie streckte sich, entfaltete dabei einen großen, schlaksigen Körper, um den langes Haar wie ein rabenschwarzer Wasserfall floss, und rieb sich den verlängerten Rücken. Sie hatte auf ihrem Flötenkasten gelegen in der Nacht, und schlecht geträumt hatte sie außerdem.

Während sie Knoten, Blätter und kleine Zweige aus ihren Haaren entfernte, versuchte sie sich an den Traum zu erinnern.  Dunkelheit. Dunkelheit und ein hoher Turm, von düsteren Wolken umkrönt. Ein Drache, der Feuer spie. Gold und Juwelen in einem Verlies. Sie selbst, ein Schwert in der Hand, auf einem schwarzen Pferd. Im Turmfenster ein Junge, der ihr etwas zurief. Eine Warnung. Der Drache wieder, der auf sie niederstieß.

Sie schüttelte den Kopf und hätte fast gelacht. Das war wie aus einer der Geschichten, die sie erzählte, nur dass dort mutige Ritter hilflose Jungfrauen retteten, nicht verirrte Gauklerinnen kleine Jungen.
In den Zweigen des großen Baumes über ihr sang eine Lerche ein helles Lied, und Chrysa erhob ebenfalls die Stimme, um mit dem Vogel den neuen Tag zu begrüßen. Vor ihr, am Fuße des Hügels, auf dem sie genächtigt hatte, breitete sich die kleine Baronie Storchenfels aus; ein kleines, sauberes Ländchen mit ordentlichen Äckern und Heuraufen, behüteten Kuh- und Schafherden und adretten Dörfern, deren Bewohner gerade ihr Tagwerk begannen. Auf dem nächsten großen Hügel, etwa sieben Meilen entfernt, konnte sie die Burg des Barons zu Storchenfels erkennen, einen prachtvollen, weiß getünchten Bau, auf dessen Zinnen Fahnen im Ostwind wehten. Dorthin wollte sie bis zum Abend kommen. Der alte Karmon, Baron von Storchenfels, war bekannt für seine Gastfreundschaft fahrenden Gauklern und Barden gegenüber, und nachdem sie seit Wochen nur betrunkene Tavernengäste unterhalten hatte, wollte Chrysa die Chance nutzen, die alten Legenden wieder einmal im Hochgesang vortragen zu können. Und wenn der Baron ihre eigenen Lieder noch nicht kannte, würde sie dafür einen zusätzlichen Beutel Geld erhalten.

Immer noch fröhlich summend rollte sie den Umhang zusammen, warf ihren Rucksack und den Flötenkasten auf den Rücken und ging mit langen, federnden Schritten los. Ihr Gewand aus grünem, gelbem und rotem Stoff leuchtete im Licht des jungen Tages, und die Glocken an ihren Rockzipfeln kündigten sie mit ihrem fröhlichen Läuten schon auf einige Schritte im Voraus an.

Bis zum Mittag war sie schon im dritten Dorf auf ihrem Weg angekommen, Sonnenau, und auch hier erhielt sie im Wirtshaus eine warme Mahlzeit, nachdem sie einige Tänze gespielt und Lieder gesungen hatte. Wie überall freuten sich die Bewohner des Dorfes über solch einen angenehmen Grund, die Arbeit einen Moment ruhen zu lassen. Während sie einen dicken Eintopf mit schwarzem Brot verspeiste, unterhielt sie sich mit der molligen Wirtin, die selbst noch jung, vielleicht vier Jahre älter als Chrysa selbst, war.

Hufgetrappel und das Scheppern von Rüstungen unterbrach sie in ihrem Gespräch, als die Gauklerin gerade die letzten Reste aus der Schale wischte. Eine harte Stimme bellte Befehle, und Kinder schrieen grell. Chrysa wollte aufstehen und nachsehen, doch die Wirtin hielt sie am Arm fest.

„Das sind die Steuereintreiber“, wisperte sie beschwörend. „Sie werden auch gleich hier hereinkommen; bitte bleibt höflich, dann sind sie schnell wieder weg.“ Chrysa bemerkte Schweißperlen auf der Wirtin Stirn, und dass sie nervös die Hände rang.

„Seit wann müssen die Bewohner von Storchenfels die Steuereintreiber fürchten?“, fragte sie.

Bevor die Wirtin jedoch antworten konnte, wurde die Türe aufgestoßen, und ein Soldat in glänzender Rüstung trat ein. Die blauen Knoten auf seiner Schulter wiesen ihn als Hauptmann aus, ebenso wie die kurzen Federn auf dem Helm unter seinem Arm. Harte graue Augen musterten den Raum und die zwei einzigen Anwesenden, während die Wirtin hinter die Theke eilte, um mit einem gefüllten Beutel zu ihm zu kommen.

„Bitte, Herr Hauptmann“, sagte sie mit einem demütigen Knicks, als sie ihm den Beutel reichte, „das ist alles, was ich seit letzter Woche eingenommen habe.“ Der Offizier löste die Schnur, sah hinein und nickte dann. Ohne ein Wort drehte er um und ging wieder hinaus, ohne die Tür zu schließen. Draußen sah Chrysa ein gutes Dutzend Soldaten sich wieder sammeln und aufsteigen, während die Bewohner des Dorfes eingeschüchtert den Anger umstanden.

Die Gauklerin wunderte sich. Dies war nicht ihr erster Besuch in Storchenfels, doch das soeben gesehene war ihr fremd. Die Bürger dieser Baronie waren immer ein zwar einfaches, doch stolzes Völkchen gewesen; Kriecherei und Demut, wie sie eben gesehen hatte, hätte Chrysa nicht mit ihnen verbunden. Und doch: Als die Soldaten fort ritten, konnte sie förmlich spüren, wie das ganze Dorf aufatmete.

Sie fragte die Wirtin danach, und die erzählte ihr, dass der alte Baron Karmon vor einigen Monaten nach langer Krankheit gestorben war. Weil sein Sohn Arnon noch zu jung zum Regieren war und außerdem zu der Zeit im Nachbarland Wolfswald weilte, hatte der Bruder der verstorbenen Baronin, Galdren, als einziger verbliebener Mann der Familie die Regierungsgewalt an sich gerissen.

„Er behauptet zwar, er würde Arnon die Macht übergeben, sobald er die Volljährigkeit erreicht, doch das wird noch zwei Jahre dauern, und niemand hier glaubt daran. Wir haben bereits Boten nach Wolfswald geschickt, doch dort war Arnon nicht mehr.“ Die Wirtin schüttelte traurig den Kopf. „Wir können nichts tun. Als Galdren begann, die Steuern zu erhöhen, haben wir uns anfangs geweigert, aber die Soldaten haben unsere Kinder gefangen genommen, und da haben wir uns gefügt. Die Söhne des Bürgermeisters und des Müllers sind immer noch im Gefängnis, als Druckmittel, damit wir uns nicht auflehnen.“

„Das darf nicht wahr sein!“ Chrysas Augen blitzten. „Kein König könnte es wagen, Kinder gefangen zu nehmen; die Freien Länder würden sofort gegen ihn vorgehen! Galdren nutzt es aus, dass Storchenfels so klein und fast vergessen ist! Aber“, sie dachte kurz nach, „wie kommt es, dass kein Barde, den ich getroffen habe, mir davon erzählt hat?“

„Es kommen nicht mehr viele Barden und Gaukler her, seit der alte Baron tot ist“, antwortete die Wirtin niedergeschlagen. „Du bist die erste, die wir hier seit dem Begräbnis sehen. Sie meiden Storchenfels, seit, Galdren an der Macht ist.“



Diesmal ließ Wut, nicht gute Laune, Chrysa lang ausschreiten. Sie hatte noch mit anderen Leuten aus Sonnenau gesprochen, bevor sie sich wieder auf den Weg machte, und dasselbe erfahren wie von der Wirtin. Der Bürgermeister, dessen ältester Sohn noch im Gefängnis weilte, hatte ihr außerdem noch von seinem Verdacht, der rechtmäßige Baron würde von seinem Onkel in der Burg festgehalten, berichtet, und sie gebeten, nichts zu unternehmen, was sein Dorf gefährden würde. Solange sie die Steuern bezahlten, wären sie sicher, auch wenn es ungerecht sei.

In den zwei Dörfern, die sie noch passierte, bevor sie zur Burg Storchenfels gelangte, erfuhr sie Ähnliches, während sie mit Musik und Gesang für ein wenig Ablenkung sorgte. Zumindest das konnte sie hier tun, ein wenig Heiterkeit verbreiten.

Sie schritt die gewundene Straße hinauf, die zur Burg führte. Die weißen Mauern erhoben sich rot gefärbt vom Abendsonnenschein über ihr, und auf den Zinnen sah sie Helme und Lanzenspitzen der Wachen glänzen. Dort oben standen mehr Wachen, als sie je zuvor auf der Burg gesehen hatte. Das große Tor aus eisenbeschlagenen Eichenbohlen war geschlossen und schien abweisend auf sie herunter zu blicken; nur an einer kleinen Seitenpforte standen zwei Wachen, die Chrysa misstrauisch beäugten, als sie mit klingenden Glöckchen näher kam.

„Seid gegrüßt“, rief sie schon von weitem. Sie nutzte ihre tragende Stimme und ihre Fähigkeit, diese selbst im Freien hallen zu lassen, um sich derart unüberhörbar anzukündigen. „Ich bin Chrysa Silbersang, fahrende Bardin und Gauklerin, und ich komme, um dem Herrn dieser Burg meine Aufwartung zu machen und Kurzweil zu bringen!“

Eine der beiden Wachen verschwand durch die Pforte, kurz bevor Chrysa dort ankam; der andere Posten beobachtete sie wachsam, als sie sich schwungvoll verbeugte. Einige Augenblicke später kam der andere wieder, begleitet von dem Hauptmann, den sie mittags in Sonnenau gesehen hatte. Er gab jedoch kein Zeichen des Erkennens von sich; stattdessen sagte er nur, sie werde bereits erwartet und sie solle ihm folgen.

Er führte sie über den Innenhof, der schmutziger, und lange Gänge, die düsterer und schlechter beleuchtet waren als bei ihrem letzten Besuch zwei Sommer zuvor. Nach einer Weile kamen sie an die Türen der großen Halle, in der Chrysa schon oft gestanden und gesungen hatte. Die Angeln quietschten, als der Hauptmann die Türflügel aufstieß.

Die Halle war ebenso spärlich beleuchtet wie der Rest der Burg, und in ihrem Inneren herrschte ein unheimliches Zwielicht. Selbst durch die hohen Fenster fiel kaum etwas vom hellen Sonnenschein draußen, weil das bunte Glas stumpf und fleckig war –zu Zeiten Baron Karmons undenkbar, genau wie die verschlissenen Teppiche, die den Boden bedeckten.

Auf dem erhöhten Sitz, der nicht ganz Thron zu nennen war, saß ein hagerer Mann mittleren Alters mit strähnigem, braunem Haar und tiefen Ringen unter den Augen. Chrysa glaubte nicht, ihn je zuvor gesehen zu haben, doch die Ähnlichkeit mit der verstorbenen Baronin war nicht von der Hand zu weisen. Wo ihre spitzen Züge der Baronin jedoch etwas Vornehmes gegeben hatten, verliehen sie diesem Mann -Galdren- ein verschlagenes Erscheinungsbild, bei dem die Bardin sich sofort an ein Wiesel erinnert fühlte. Neben ihm stand ein grauhaariger Minister in scharlachroten Gewändern, vornüber gebeugt und fast bucklig zu nennen. Seine Augen waren geschlossen, doch Chrysa war sicher, dass er nicht schlief.

Wieder verbeugte sie sich schwungvoll, und die Glöckchen untermalten ihre Stimme. „Hochverehrter Herr Baron, habt Dank für Euren Empfang! Chrysa Silbersang werde ich gerufen, fahrende Bardin und Gauklerin; Eure Hallen mit Gesang und Heiterkeit zu füllen, bin ich gekommen!“ Ihre letzten Worte schwebten noch einen Moment unter der gewölbten Decke, bevor sie zögerlich verhallten. Chrysa hielt die Luft an.

Schließlich, nach einigen Augenblicken, in denen er sie kritisch musterte, antwortete der Mann. Seine Stimme war krächzend und kratzig, wie die eines alten Mannes, der zuviel Tabak genoss.

„Seid willkommen auf dieser Burg, Chrysa Silbersang.“ Er räusperte sich, aber seiner Stimme half das nicht. „Ihr könnt in der Küche zum Abend eine Mahlzeit erhalten, und in den Gesindehäusern wird sich sicherlich auch ein Platz zum Schlafen für Euch finden. Doch diese Halle hat keinen Bedarf für Eure Kunst. Singt in der Küche und spielt auf dem Hof, doch ich will keinen Ton in dieser Halle hören. Ihr könnt gehen.“ Damit wandte er den Blick aus dunklen Habichtsaugen von ihr ab und wandte sich dem Minister zu, die Bardin aus seiner Aufmerksamkeit verbannt.

Chrysas Gedanken überschlugen sich, während sie vom Hauptmann wieder hinaus geführt wurde. Er hatte den Titel des Barons nicht bestritten; also war die Vermutung der Bürger aus Sonnenau wohl richtig. Er wollte keinen Gesang in der großen Halle; wusste er um die Bardenmagie? Aber woher? Und wer war der Minister an seiner Seite?

Sie wurde in die Küche gebracht, wo eine dicke Köchin ein Regiment von Helfern dirigierte. Der Hauptmann machte sofort wieder kehrt und ließ die Gauklerin in der Türe stehen, die sich an einem der großen Tische niederließ, ohne dass jemand sich beschwerte. In der Hektik der Essensvorbereitungen wurde sie gar nicht bemerkt, und nach einem Moment öffnete sie den Flötenkasten und begann, zum Takt der Töpfe und Pfannen eine fröhliche Melodie zu spielen.

Die Köchin stutzte, als sie die Töne der Flöte vernahm, lächelte dann zu Chrysa herüber und tanzte dann fast durch die Küche, genau wie die Mägde und Knechte, die ihr unterstanden. Das war einfachste Bardenmagie: Leute zum Tanzen zu bringen und gute Laune zu verbreiten.
Als schließlich die Platten und Schüsseln hinausgetragen wurden, kam sie mit hüpfendem blondem Dutt auf Chrysa zu, einen Teller mit Fleisch und Gemüse in der einen, einen Krug Wein in der anderen Hand. Ihr Gesicht glänzte rosa und ihre Schweinsäuglein strahlten, als sie beides vor der Bardin abstellte.

„Haltet ein, haltet ein“, schnaufte sie fröhlich, und nach einem letzten, ausklingenden Ton nahm Chrysa die silberne Flöte von den Lippen.

„Es freut mich, dass Euch mein Spiel gefallen hat, Küchenmeisterin“, sagte sie lächelnd. „Und habt vielen Dank für die Mahlzeit; es duftet vorzüglich.“

„Keine Ursache, keine Ursache“, trällerte die Dicke, die Stimme erstaunlich hell für einen so schweren Körper. „Wir hatten schon lange nicht mehr so gute Laune in der Küche, nein, hatten wir nicht. Und nennt mich Hanah, bitte!“ Sie ließ sich auf die Bank gegenüber fallen. „Esst, Kind, esst! Keine falsche Scham! Wir haben nur noch selten so angenehme Gäste zu bewirten seit…“ Sie warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter, doch außer ihnen beiden war niemand in der Küche. Im Flüsterton fuhr sie fort: „Seit der Baron gestorben ist, wisst ihr? Und Galdren scheint keine Fröhlichkeit in seiner Umgebung zu dulden, wisst Ihr? Keine Ahnung, ob Anacus dahinter steckt, der griesgrämige alte Sack, aber seit der hier ist hört man kaum noch ein Lachen auf den Fluren. Sogar die Pferde haben Angst vor ihm, sogar die Pferde!“

Chrysa wollte mit vollem Munde nicht fragen, aber sie vermutete, dass dieser Anacus der Minister war, den sie gesehen hatte. Während sie das –in der Tat vorzügliche- Essen verspeiste, plapperte Hanah immer weiter. Chrysa hatte nicht einmal ihre Magie anwenden müssen, um mehr zu erfahren, denn die Köchin redete fleißig auf sie ein, vom mysteriösen Verschwinden des jungen Barons, der nicht aus Wolfswald zurückgekehrt war, und den merkwürdigen Befehlen, die Galdren gab.

„Manchmal bestellt er ein riesiges Festmahl, ohne dass irgendwelche Gäste erwartet würden, und wenn wir dann ein Menü für dreißig Personen in die Halle bringen, schließt er sich mit Anacus dort über Nacht ein –und am nächsten Morgen ist alles fort! Essen für eine ganze Woche, einfach verschwunden! Und Galdren kann es nicht gegessen haben, der wird immer dürrer und dürrer, seit Baron Karmon tot ist. Manchmal sieht er aus wie ein Gespenst, wenn er einem nachts auf den Gängen begegnet! Außerdem…“ Sie unterbrach sich. Auf dem Gang waren Schritte zu hören, die näher kamen. Schnell erhob Hanah sich, und Chrysa spitzte die Ohren, während sie die letzten Tropfen Soße mit Brot aufwischte.

Ein Diener in abgetragener Livree erschien in der Küchentür und räusperte sich.  „Der Baron wünscht noch ein Spanferkel für die Nacht, außerdem einen Kessel Rindereintopf und drei Laibe Brot.“

„Dann musst du mir meine Helfer wieder zusammenrufen, Karli“, gab die Köchin gereizt zurück. „Keiner kann von mir erwarten, dass ich das alleine mache, keiner!“ Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und sah den Diener herausfordernd an, doch der zuckte nur die Schultern und trollte sich. Hanah schnaubte beleidigt.

„Das habe ich gemeint“, sagte sie, sich wieder Chrysa zuwendend. „Wir werden ihm das Essen machen, er wird sich wieder einschließen und die ganze Nacht nicht herauskommen, und morgen früh wird alles fort sein.“ Sie seufzte schwer. „Nun, ich soll mich nicht beschweren, nicht wahr? Immerhin bin ich hier nur die Köchin. Trotzdem denke ich, wenn der junge Baron Arnon da wäre, würde es so etwas nicht geben, nein, würde es nicht.“

Chrysa bedankte sich für das Essen und erbot sich, noch einmal zu spielen, während gekocht würde, doch Hanah winkte ab. Wenn die Bardin im Gesindehaus spielen würde, hätte auch der Rest der Bediensteten noch etwas von ihrem Besuch. Sie erklärte ihr den Weg zur Halle der Diener, als auch schon ihre ersten Gehilfen wieder in der Küche eintrafen. Während sie mit lauter Stimme und einem Kochlöffel in der Hand ihre Untergebenen dirigierte, machte Chrysa sich auf den Weg.



Es war schon spät in der Nacht, als Chrysa das letzte Lied beendet hatte, und weit nach Mitternacht, als die Mägde und Knechte um sie herum endlich alle im tiefen Schlaf ruhig atmeten. Leise erhob sie sich von der Bettstatt, die man ihr in der Nähe des Kamins in der Gesindehalle gerichtet hatte. Den Rock mit den Glöckchen hatte sie ausgezogen, um keinen unnötigen Lärm zu machen, und nun schlich sie im schwachen Licht der glühenden Kohlen barfüssig, in Hemd und Unterrock, zur Tür. Sie hatte den ganzen Abend darüber nachgedacht, was es mit dem merkwürdigen Verhalten Galdrens auf sich haben mochte, doch wieder war sie zu keiner befriedigenden Antwort gekommen. Von den anderen Bediensteten hatte sie auch nur ähnliche Ungereimtheiten wie von Hanah erfahren, jedoch keinen Hinweis darauf, was in der Großen Halle vorging. Nun wollte sie das auf eigene Faust herausfinden.

Die Steinfliesen waren kalt, doch das störte Chrysa nicht. Sie summte eine ruhige Melodie und nutzte ihre Bardenmagie, um nicht gehört zu werden, während sie durch die leeren Gänge schlich. Nicht einmal eine Katze begegnete ihr.

Die Türflügel der Großen Halle waren verschlossen, wie erwartet, doch sie schlich daran und an drei weiteren Türen vorbei, bis sie zu einer kleinen, unscheinbaren Treppe kam, an deren oberem Ende sich eine kleine Pforte befand. Karmon selbst hatte ihr vor Jahren einmal diesen Dienstbotengang gewiesen, als sie für ihn unauffällig Zeugin eines Gespräches sein sollte. Mochten die Götter wissen, warum er damals ausgerechnet eine Bardin zur Zeugin haben wollte, doch nun dankte sie dem Verstorbenen im Stillen dafür.

Sie wandelte die gesummte Melodie und prüfte die Tür und den dahinter liegenden Raum auf magische Fallen, fand aber nichts. Scheinbar schien Galdren nichts von diesem Gang zu wissen; umso besser für sie. Sie summte wieder den Stillezauber, als sie die Türe öffnete, um mögliches Quietschen zu unterbinden, und schlüpfte schnell hinein. In dem kleinen Raum und dem schmalen Gang brannte, wie erwartet, kein Licht, doch vom Ende des Ganges schimmerte Helligkeit hinein. Sie tastete sich vorsichtig vorwärts, bis sie an die Stelle kam, wo das Mauerwerk filigran durchbrochen war, so dass man in die Große Halle hinunterblicken konnte. Von der anderen Seite wirkten diese Löcher wie eine die ganze Halle umspannende Verzierung.

Sie unterdrückte gerade so einen kleinen Schrei. Dort unten, auf den bunten Fliesen der Halle, kauerte ein Drache, die mächtigen Schwingen eng an den Körper gelegt, kleine Rauchwölkchen aus den Nüstern stoßend. Rote und grüne Schuppen glitzerten im Licht der wenigen brennenden Kerzen. Auf den zweiten Blick entdeckte sie, dass der Drache in einem Bannkreis saß, der fast den gesamten Fußboden einnahm; auf der Seite, wo der erhöhte Sitz des Barons stand, hielt der Minister Anacus die Arme beschwörend in die Höhe. Galdren entdeckte sie erst nach einem Moment des Suchens; er stand hinter dem Kopf des Drachen, der halb in einem riesigen Suppenkessel steckte. Die goldenen Augen mit den schrägen Pupillen blickten vorsichtig hin und her, schuppige Ohren zuckten nervös.

„Niemand wird dich je finden, Junge.“ Galdrens kratzige Stimme klang selbstgefällig. „Du wirst mir die Herrschaft übertragen, daran führt kein Weg vorbei, und danach wirst du fortgehen, ob du willst oder nicht. Du hast nur die Wahl, wie schmerzhaft es für dich noch werden soll.“ Er nickte dem Minister –Magier, korrigierte Chrysa sich- zu, und der machte einige Gesten.

Der Drache warf den Kopf zurück und heulte vor Schmerz. Er wollte die Flügel ausbreiten, doch unsichtbare Fesseln hinderten ihn daran.
Die Bardin dachte nicht nach; das Lied der Linderung fand wie von selbst auf ihre Lippen, und die sanften Töne, obwohl kaum hörbar, wirkten ihre Magie. Der Drache beruhigte sich wieder. Er wirkte verwirrt.

„Herr“, raunte der Magier, „hier wird Magie gewirkt.“

„Natürlich, Anacus“, fuhr Galdren ihn an, „oder was, denkst du, tust du hier?“

Der Magier verzog beleidigt das Gesicht, bewegte sich aber ansonsten nicht.

„Andere Magie, Herr. Jemand hat den Peinzauber gebrochen.“

„Was?“ Galdren fuhr herum und blickte sich in der Halle um. Er sah nicht nach oben.

Wieder zögerte Chrysa nicht. Sie war sich zwar nicht hundertprozentig sicher, wie Anacus es getan hatte, doch ganz offensichtlich hatte er den jungen Baron Arnon in diesen Drachenkörper gebannt. Bevor sie sie entdeckten, musste sie dem ein Ende setzen, und ihr stand noch mehr zur Verfügung als nur die Bardenmagie.

Es schmerzte, die innere Quelle dunkler Magie anzuzapfen, die sie von ihrer Mutter, einer Schattendämonin, geerbt hatte. Es war ein Griff in die Dimension der Dämonen und dunklen Geister, und sie musste mit der Macht ringen, ehe sie sie nutzen konnte. Ein Wimpernschlag nur, doch die Zeit dehnte sich endlos. Die schwarze Magie der Dämonen weigerte sich, zum Guten eingesetzt zu werden, sie warf Chrysa Stacheln aus Hass und Pfeile aus Bosheit entgegen, die Wunden in ihre Seele rissen, doch sie ließ nicht locker. Tränen rannen über ihre Wangen, aus Augen, die schwarz geworden waren, und das Blut wollte in ihren Adern gerinnen, doch schließlich, endlich, gab die Macht nach und fügte sich ihrem Willen. Weder Galdren, Anacus noch der Drache schienen sich bewegt zu haben.

Die Schatten in der Halle wurden lebendig. In jeder Ecke, in die kein Licht von den Kerzen fiel, wurde die Dunkelheit tiefer, schwärzer, nahm Form an. Hinter dem Sitz des Barons trat ein schattengeborener Henker hervor, schwärzer als die Nacht, ein riesiges Beil in seinen Händen. Aus einer anderen Ecke kam ein schwertschwingender Ritter aus Finsternis auf Galdren zu. Bogenschützen aus Schatten klebten an der hohen Decke, und jeder zielte auf den Magier oder seinen Herren.

Der Drache, Arnon, wollte wieder mit den Flügeln schlagen, doch die unsichtbaren Fesseln hinderten ihn noch immer. In seinen Augen stand nackte Angst geschrieben, ebenso wie in denen seines Onkels.

Nur Anacus schien ruhig zu bleiben. Er sah den Henker nicht, der von hinten auf ihn zutrat. Galdren wollte ihn warnen; ein Knebel aus Schatten flog in seinen geöffneten Mund und ließ ihn verstummen. Der Magier machte mit der rechten Hand einige komplizierte Gesten, die Linke hielt er weiter hoch erhoben.

Chrysa hatte das Gefühl, als würde ihr Blut aus allen Poren strömen. Sie ignorierte es. Die Handhabung der dunklen Macht war schwierig genug; dass Anacus nun noch einen Gegenzauber wob, machte es fast unmöglich.
 
Sie sog tiefer aus der dunklen Quelle, spürte, wie ihre Seele von den finsteren Mächten fast zerrissen wurde, und warf dem Magier den Henker entgegen. Die Dämonen der Schattenebene verlangten nach einem Opfer, und Chrysa wollte es nicht sein. Das nachtschwarze Beil schwang lautlos durch die Luft und traf den Hals seines Ziels. Ohne ein Geräusch fuhr die Klinge durch den Körper des Magiers, und der so getroffene Körper sackte zusammen. Es war keine Wunde zu sehen, kein Blut floss, und doch spürte Chrysa, wie der Gegenzauber sich auflöste. Die Mächte der Schattendämonen trafen nicht den Körper, sondern die Seele. Sie sah Anacus’ Seele sich aus dem Körper lösen, nicht länger mit der leiblichen Hülle verbunden, und durch das Tor in ihrem Inneren, das sie geöffnet hatte, drangen Dämonen hinaus, unsichtbar für andere als ihre Augen, und stürzten sich auf die Seele des Magiers.

Chrysa verlor die Kontrolle, einen Augenblick nur, doch der genügte den Dämonen. Einer von ihnen fuhr in einen der Bogenschützen und feuerte einen Pfeil aus Schatten auf Galdren ab, der ebenso zu Boden fiel wie Anacus zuvor. Wieder stürzten sich die Dämonen auf die ungeschützte Seele, und die geistigen Schmerzensschreie der beiden waren eine Qual für die Bardin, doch ein Fest für die finsteren Geister.

Langsam, unendlich langsam zwang sie die dunklen Mächte wieder zurück in ihre Welt, ließ die Schattenwesen wieder zu dem werden, was sie zuvor waren, bloße Schatten, geworfen von Kerzen, und schloss das Tor in ihrem Inneren. Die schwarzen Mächte zu nutzen hatte immer seinen Preis; heute war sie mit ein paar Kratzern davongekommen. Die Dämonen hatten etwas Wertvolleres erhalten als nur Stücke aus ihrer Seele. Ihr war kalt, und sie zitterte. Irgendwann würden sie sie genauso holen. Doch nicht heute. Nicht heute.

Der Drache saß immer noch verwirrt und ängstlich auf dem Boden der Halle, und seine Flügel zuckten. Chrysa fuhr sich über das Gesicht, wischte die Tränen fort, und machte sich auf den Weg hinunter. Sie würde den Bannkreis auflösen müssen, der den jungen Baron band.

Immer noch war in der Burg alles still, niemand hatte etwas von dem übersinnlichen Aufruhr mitbekommen, den die Bardin entfesselt hatte. An der Tür zur Großen Halle lauschte sie erst kurz, ob der Drache auch ruhig sei, bevor ein einfacher Gesang ihr die Tür öffnete.

Rote und grüne Schuppen glitzerten, als der Kopf des Drachen zu ihr herumfuhr. Sie legte einen Finger an die Lippen und schloss die Tür. Der Drache legte den Kopf schief.

„Ich erkläre Euch alles, Baron Arnon, sobald ich diesen Kreis zerstört habe“, antwortete sie auf die unausgesprochene Frage. Sie ging einmal um den Kreis herum, vorbei an den atmenden, doch leblosen Körpern Galdrens und des Magiers, und begann dann, die Symbole einzeln auszuwischen. Sie musste vorsichtig vorgehen, um den Jungen nicht umzubringen; eine reine Seele wäre für die Dämonen ein gefundenes Fressen, und sie würden Chrysa überrumpeln, nun, da sie diesen Ort kannten.

Es dauerte eine Weile, doch schließlich wurde der Drache von einem warmen Glühen eingehüllt, und seine Gestalt schmolz in sich zusammen, bis ein etwa fünfzehnjähriger, schlaksiger Knabe vor der Bardin stand. Er hatte rotblondes Haar wie sein Vater, und sein rotes Wams und die grüne Hose waren von feinem Schnitt, doch zerrissen und schmutzig. Große blaue Augen blickten Chrysa ängstlich und fragend an.



Erst am übernächsten Tag zog die Bardin weiter. In ihrem Rucksack steckte ein schwerer Geldbeutel, den Baron Arnon ihr zum Dank für seine Rettung gegeben hatte, zusammen mit soviel Proviant, dass sie davon eine Woche lang satt werden würde.

Die Bewohner der Burg hatten die Rückkehr des jungen Barons ausgelassen gefeiert, und Chrysa hatte den ganzen Tag für sie aufgespielt und gesungen. Die Gefangenen wurden aus dem Gefängnis befreit, alles Kinder von Schultheißen und anderen Bürgern, die sich gegen die hohen Steuern aufgelehnt hatten. Galdren und Anacus waren in ihre Betten gelegt worden, und der Medicus stellte fest, dass er nichts für die beiden tun könne. Man hatte sie am Morgen so, wie sie waren, in der Halle gefunden, wo nichts mehr von dem Bannkreis zu sehen war, und Arnon sowie Chrysa hatten sich gehütet, irgendwem die Wahrheit über ihren Zustand zu erzählen.

Chrysa war guter Hoffnung, dass es dem Knaben gelingen würde, die Fehler seines habgierigen Onkels wieder auszumerzen. Doch ihre eigenen Narben würden so leicht nicht verschwinden. Als sie in den Spiegel geblickt hatte, hatte sie wieder einen schwarzen Fleck mehr in ihren Augen entdeckt; wenn sie das Erbe ihrer Mutter zu oft anwandte, würden ihre Augen ganz schwarz werden.

Dann würden die Dämonen kommen und sie zu einer der ihren machen.


© by Oile 2004


 

Why worry?
There are only two things to worry about:

Either you're well, or you're sick.

If you're well, there's nothing to worry about.

If you're sick, there are two things to worry about:

Either you get well, or you die.

If you get well, there's nothing to worry about.

If you die, there are only two things to worry about:

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If you go to Hell, you will be so damn busy shaking hands with your friends, you won't have time to worry.
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